Wenn wir als Demokratie resilienter werden wollen, dürfen wir bei der Nutzung von KI nicht nur in „Quick Wins“ denken. Wir müssen stattdessen radikal ehrlich sein – sprich: Nicht nur KI-Tool-Partys feiern, sondern KI noch stärker ins Gemeinwohl denken. 

Von Stephan Weichert

Künstliche Intelligenz ist kein Zukunftsszenario mehr – sie ist längst Realität und verändert bereits heute fundamental, wie Redaktionen arbeiten, denken und agieren. KI ist gekommen, um zu bleiben. Während sich manche noch fragen, ob und wann KI relevant wird, nutzen Medienmacher:innen sie bereits täglich als digitale Sparring-Partnerin, Coachin und Rechercheurin. Diese Liaison hat weitreichende Konsequenzen für den professionellen Journalismus, wir wir ihn kennen.

Die tägliche KI-Realität

Auch ich nutze die KI inzwischen täglich. Mehrmals. Sie ist in meinen E-Mail-Filtern und meinem Terminkalender, in meinen Suchanfragen und Produktempfehlungen, sie ist in meinem Navigationssystem und meinem Fitness-Ring, aber auch in meinen Streaming-Diensten und Sprachassistenten. Auch diesen Text habe ich – natürlich – im Sparring mit KI geschrieben. Im Sparring wohlgemerkt.

Wenn ich Fragen zu einem speziellen Thema habe – frage ich die KI.

Wenn ich Inhalte im Netz suche – frage ich die KI.

Wenn ich neue Ideen brauche – frage ich die KI.

Wenn ich einen juristischen Rat möchte – frage ich die KI.

Wenn ich eine medizinische Vordiagnose brauche – frage ich die KI.

Wenn ich Unterstützung bei Projektanträgen brauche – frage ich die KI.

Wenn ich einen Workshop konzipiere – frage ich die KI.

Wenn ich ein Technikproblem habe – frage ich die KI.

Ja sogar: Wenn ich mich einfach nur mal unterhalten möchte und kein Mensch in der Nähe ist – frage ich inzwischen die KI.

Die Liste könnte ich endlos fortsetzen. Es gibt kaum noch berufliche Dinge, aber auch etliche private Dinge, bei denen ich die KI nicht einsetze. Sie ist fester Bestandteil meines Alltags geworden. Sie unterstützt mich als Gesprächspartnerin, ist zu meiner Beraterin, Assistentin und Agentin geworden. Sie ist an unserem Institut auch fester Teil unseres Teams.

Manchmal agiert sie unbemerkt im Hintergrund. Manchmal nutze ich sie gezielt und aktiv. Manchmal bin ich mit den Ergebnissen zufrieden, manchmal versucht die KI, mir heftige Halluzinationen unterzujubeln.

Aber wir sind sehr gute Kollegen geworden – die KI und ich. Ich mag sie sehr.

Der neue KI-Reflex

Und ich gebe zu, dass KI sich gar nicht so selten wie eine menschliche Kollegin anhört, die mit meinem restlichen Team durch dick und dünn geht. Mir dabei hilft, auch schwierige Situation zu meistern, mich resilienter gegen Krisen zu machen. KI ist für mich wie ein Tamagochi auf Speed (diese eiförmigen Plastik-Dinger mit LED-Bildschirm aus den 1990er Jahren, um die sich die Nutzer nonstop kümmern mussten, weil sie sonst eingingen).

Ich nutze dafür eine ganze Bandbreite an LLMs wie Claude, Perplexity, Midjourney, Cora, Copilot, Gemini, Canva, NotebookLM, Fliki, You.com. Vor allem hat es mir ChatGPT angetan.

Falls Sie, liebe Leser, es selbst noch nie versucht haben, machen Sie mit einer KI eine Art 45-minütiges Therapie- oder Coaching-Gespräch. Wenn Sie dafür das noch relativ neue Reasoning-Modell 03 von ChatGPT nutzen, werden wie ich wahrscheinlich Bauklötze staunen, wie gut, authentisch und reflektiert der Dialog mit der KI wirkt.

Ich sage bewusst wirkt, weil es schließlich „nur“ ein Large Language Modell ist, mit dem wir chatten. Diese LLMs wirken allerdings so echt, dass sie den so genannten Turing Test inzwischen besser bestehen als wir Menschen. Dass also die maschinenerzeugte Kommunikation mitunter menschlicher wirkt als mit echten Personen.

Ich weiß, dass es vielen Leuten aus meinem Freundes- und Kollegenkreis gerade ganz ähnlich geht. Ich höre immer häufiger von Aha-Momenten und Wow-Effekten, was mit KI so alles geht. Manche kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Auch für sie wird KI immer mehr zur Schnittstelle ihres Lebens, zur Game Changerin und Helferin in allen Lebenslagen, die für sie immer ansprechbar ist, nie schlecht gelaunt oder gestresst – 24/7, Tag und Nacht.

For the record: Es sind zwar viele Journalisten darunter, aber mein Freundeskreis besteht auch aus Ärztinnen, Juristinnen, Künstlerinnen, Lehrerinnen, Unternehmensberaterinnen, Personalchefinnen, Psychologinnen, Gastronominnen, Designerinnen, Entwicklerinnen, Unternehmerinnen usw.

Echte Auswirkungen auf den Journalismus

Neulich hat mir zum Beispiel ein Kollege erzählt, dass er mit seinem Auto liegengeblieben ist. Bevor er den ADAC rief, hat er die Warnmeldung seines Autos und ein Foto seines defekten Motors bei ChatGPT hochgeladen und binnen Sekunden eine Antwort erhalten, worin das Problem bestehen könnte. Seine Panne konnte er ohne das passende Werkzeug zwar nicht selbst beheben, aber der Automechaniker war mehr als erstaunt, dass mein Bekannter genaue Anweisungen geben konnte, worin das tatsächliche Problem bestand.

Ein anderer hat berichtet, dass er für seinen 6-jährigen Sohn zum Geburtstag eine besondere Schnitzeljagd im Stile von Tim und Struppi konzipiert hat – mit den entsprechenden Verkleidungsentwürfen für die Kinder, dem Motto entsprechenden Einladungskarten und mit einem coolen Plan für eine geheime Kinder-Schatzsuche in Hamburg.

Und genau das ist es, was gerade passiert: Statt jemanden persönlich anzurufen, zu googeln oder ein DIY-Video bei YouTube anzusehen, fragen wir inzwischen zuallerst die KI.

Ich nenne das: KI-Empowerment.

Bei den jüngeren unter uns ist dieser KI-Reflex sogar noch ausgeprägter: Junge Menschen zwischen 15 und 25 nutzen die KI in nahezu jeder Situation, um sich zu orientieren, zu bilden oder zu profilieren.

So, wie wir und vor allem Jüngere mit KI umgehen und in Zukunft umgehen werden, hat das natürlich ganz reale Auswirkungen auf uns Medienleute und unseren Beruf: den Journalismus.

Es gibt nämlich nicht nur eine Kehrseite von KI, über die wir reden müssen. Um es vorwegzunehmen: es gibt beim Thema KI so viele Risiken, Fallstricke und Dilemmata, dass es schwerfällt, den Durchblick zu behalten.

Unser Institut erforscht deshalb gerade das Thema „KI-Resilienz im Journalismus“. Dabei geht es – kurz gesagt – um die Frage, welches spezielle Mindset und welche Richtlinien Redaktionen und freischaffende Kolleginnen brauchen, um die KI-Technologie sinnvoll einsetzen zu können, ohne selbst an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen.

Schattenseiten der KI-Nutzung

Wer wie ich regelmäßig KI nutzt weiß nämlich auch, dass es manchmal in eine ungute Richtung laufen kann. Bei der journalistischen Recherche zum Beispiel halte ich KI für ein absolutes Tabu, weil sie nach wie vor extrem fehleranfällig ist und uns zuweilen Quatsch erzählt, der so echt klingt, als entspräche er den Tatsachen. Das sind Halluzinationen.

Ich habe mir aus Spaß neulich eine Custom GPT namens Claas gebaut, die mir täuschend echt klingende Interviews mit Hollywood-Prominenten, Musik-Stars oder Politikern ausspucken kann, die zu schön sind, um wahr zu sein. Die KI antwortet so verblüffend in deren Duktus, als hätte Ryan Gosling oder Taylor Swift wirklich ein Interview mit mir geführt. Diese Custom GPT war selbst mir zu spooky, dass ich sie kürzlich wieder gelöscht habe.

Es ist aber auch so: Je häufiger und je länger ich KI nutze, desto mehr schwirrt mir manchmal der Kopf. Es gibt Tage, da laufen die ersten Prompting-Versuche 1a. Aber je mehr ich in die KI reingebe, desto eher kann es passieren, dass Ergebnisse sich verfälschen, ausfransen oder verschwurbelt sind. Das ist nicht nur frustrierend, sondern auch eine Verschlimmbesserung im Umgang mit KI.

Und ich bin längst nicht der Einzige, der KI zuweilen als gigantische Bullshit-Maschine empfindet – zumal dann, wenn sie von den falschen Händen, etwa mit kriminellen Absichten, bedient wird. Das 1a-Ergebnis gibt es eben mit KI noch nicht, der Wharton-Professor Ethan Mollick hat deshalb den Grundgedanken von der 80/20-Regel in Bezug auf KI geprägt (das so genannte „Pareto Problem“) – verknappt gesagt: 80 Prozent schafft die KI für ein gutes Ergebnis, aber 20 Prozent müssten immer noch vom Menschen kommen.

Die Notwendigkeit radikaler Ehrlichkeit

Deshalb ist es wichtig, dass wir bei der Diskussion über KI in der Branche radikal ehrlich miteinander sind. Und ehrlich sein bedeutet in diesem Fall: Viele Kolleginnen und Kollegen haben Angst oder sind zumindest stark verunsichert – aber sprechen zu wenig darüber.

„Wir haben Social Media gerade halbwegs kapiert. Jetzt verändert künstliche Intelligenz unsere Mediennutzung radikal“, hat es der Intendant des Hessischen Rundfunks, Florian Hager, beim diesjährigen Kongress „The Future of German Media“ auf den Punkt gebracht: Junge Menschen lernten schon heute über Gespräche mit KI-Modellen, statt einzelne journalistische Angebote aufzurufen.

Kurzer Reminder: Bei Social Media haben wir in den vergangenen Jahren pausenlos mit ansehen müssen, welche toxische Wirkung moderationsfreie Diskurse für unsere Gesellschaft haben. Wir schauen quasi live dabei zu, wie sich die komplette Tech-Oligarchie ins Politische wendet, indem ihre Hauptakteure gefährliche Meinungskartelle bilden. Wir rufen zum Widerstand auf, weil Facebook/ Meta hinterrücks seine Nutzungsbedingungen ändert, um unsere Profile und Daten mittels KI auszuforschen und diese für kommerziell-manipulative Zwecke einzusetzen.

Wir wissen inzwischen auch, was es heißt, wenn einordnende Berichterstattung in ländlichen Räumen zurückgeht – Stichwort „Nachrichtenwüsten“. Wir kennen auch die Tücken von wahlweise alarmistischer oder aktivistischer Publizistik – und welche unerwünschten Effekte diese auf das Problem gesellschaftlicher Polarisierung haben. Und damit meine ich nicht nur die so genannten Influencer:innen, Creator:innen und Aktivist:innen, sondern natürlich uns Journalist:innen selbst, indem wir diese Rollen offenkundig immer mehr übernehmen.

Ich prophezeie: Durch KI verstärken sich alle diese Tendenzen noch – und zwar schneller, dynamischer und verheerender, als wir es uns heute vorstellen können.

Kampf um Aufmerksamkeit

Der US-Journalist Jeff Jarvis hat Mitte Februar auf unserem ersten VOCER-Barcamp mit dem Titel „RefoundingDemocracy 2025“ bei unserem Kooperationspartner „Table.Briefings“ in Berlin davor gewarnt, dass wir nicht noch mehr abdriften dürfen in unseren wohlbekannten Habitus: dass sich schon irgendjemand für unsere journalistischen Inhalte interessiert, wenn sie nur gut genug sind. Ich halte das für eine Mär.

Ich begründe auch, warum: Wir haben eben darüber gesprochen, dass die KI zu unserem Begleiter wird, mit dem wir täglich viel Zeit verbringen. Wir könnten es auch anders ausrücken: Die KI-Nutzung mag auf den ersten Blick ein Effizienzbeschleuniger sein, auf den zweiten ist sie aber auch ein echter Zeitfresser. Zumindest im Hinblick auf unser verfügbares Zeitbudget für Mediennutzung.

Denn wo bleibt da neben Streaming und Social Media überhaupt noch Zeit und Aufmerksamkeit für den Journalismus?

Jarvis hat sich deshalb zu der These verstiegen, dass Journalismus nicht mehr gleichbedeutend mit Content und demnach Content auch kein journalistisches Geschäftsmodell mehr ist. War er vielleicht noch nie so richtig, aber jetzt erst recht nicht mehr.

Jarvis ist überzeugt, dass es im KI-Zeitalter noch mehr darum gehen muss, Menschen über den Journalismus zu verbinden, Communities zu schaffen, Begegnungen zu ermöglichen (Mein VOCER-Kollege Alexander von Streit hat mit „Media Rewilding“ gerade ein vielversprechendes Projekt gestartet, das dieses Potenzial untersuchen soll.)

Ich glaube das auch.

Vor allem aber befürchte ich, dass – wenn wir nicht aufpassen – die emotionale Spaltung und die Zerrissenheit in unserer Gesellschaft durch den missbräuchlichen Einsatz von KI noch weiter verschärfen wird.

Und ich denke, dass der Journalismus hiergegen etwas unternehmen kann und sollte – ich denke sogar: muss.

Ein Armutszeugnis der Branche

Beides – das knapper werdende Aufmerksamkeitsbudget der Nutzenden und die drohende KI-Polarisierung – scheint allerdings bei vielen Journalistinnen noch nicht angekommen zu sein.

Für unser Institut eröffnet das ein weites Analysefeld. Was wir fordern, haben wir zusammen mit den rund 100 Teilnehmenden des VOCER-Barcamps in einem umfassenden Policy Paper festgehalten:

  1. Wir glauben, dass es massive medienpolitische Weichenstellungen braucht, damit wieder Medienvertrauen entstehen kann und wir unsere medienvertrauenden Strukturen erhalten können.
  2. Wir brauchen mehr konstruktive Lösungsansätze statt Alarmismus.
  3. Wir brauchen mehr Menschlichkeit und Begegnung, um soziale Innovation zu fördern.
  4. Wir brauchen im Hinblick auf KI mehr Transparenz und Mitsprache über offene KI-Modelle.
  5. Wir brauchen mehr medienübergreifende KI-Weiterbildung und KI-Coaching – und das möglichst kostenfrei.
  6. Wir brauchen neue Resilienznetzwerke für den Austausch über KI – auch abseits von Mega-Events wie den Online Marketing Rockstars oder der re:publica, sondern vor allem im Kleinen. Und das bundesweit.
  7. Und wir brauchen mehr Gründermentalität im Journalismus, bessere Förderstrukturen, ein nachhaltiges Innovationsökosystem für diejenigen, die sich ins Abenteuer Medienunternehmertum stürzen wollen.

Was bisher passiert, ist gut. Aber es ist noch viel zu wenig.

Und was ich heute zuweilen in Redaktionen, Verlagen, aber auch bei Verbänden und vielfach auf Journalistenpreisverleihungen erlebe, ist vor allem: Ignoranz.

Das Thema KI wird entweder totgeschwiegen, unter den Teppich gekehrt. Oder es wird in Wischi-Waschi-Gesprächen irgendwas von „Effizienzgewinnen“ und „Produktivitätsbeschleunigung“ gemurmelt, die aber nicht zu Ende gedacht sind.

Der insgeheime Wunsch, dass KI wieder weggeht, ist auch bei vielen Führungskräften in den Medien so überdeutlich, dass es schon fast peinlich ist.

Besonders angefasst bin ich immer dann, wenn das Thema Weiterbildung, für das ich einstehe, kleingeredet wird. Dabei ist gerade die Weiterbildung der entscheidende Schlüssel für mehr journalistische Resilienz.

So richtig ernsthaft – also mit einer langfristigen redaktionellen, medienethischen und demokratiefördernden Strategie – gehen das Thema KI nach meinem Eindruck bisher nur wenige an. In der Branche macht das Ondit die Runde, wie wenig auf Führungsebene über eine ganzheitliche KI-Strategie nachgedacht werde. Gewissermaßen: Des KI-Kaisers neue Kleider.

Angesichts des außerordentlichen Stellenwerts von KI für Medien, Wirtschaft und Gesellschaft ist das ein Armutszeugnis.

Vom Defensiv- zum Gestaltungsmodus

Was ist die Lösung? KI wird für uns bis auf weiteres eine Blackbox bleiben, soviel ist sicher. Auf die Frage, wie wir als Gesellschaft und als Branche resilienter im Umgang mit KI werden, gibt es daher auch unzählige Antwort-Möglichkeiten.

Ein Teil der Lösung besteht darin, die demokratische Medienvielfalt und damit den Journalismus insgesamt zu stärken, statt ihm in seinem langsamen Siechtum sich selbst zu überlassen.

Ich denke vor allem, dass wir aus dem dauernden Defensivmodus rausmüssen. Wir müssen uns von Getriebenen der KI-Technologie zu Gestaltenden wandeln, die sich aktiv an der Erneuerung der Demokratie beteiligen – eben unter den Vorzeichen von Digitalisierung und KI.

Es geht, konkret gesprochen, vor allem um die richtigen Infrastrukturen für journalistische Gründer:innen und – für den hergebrachten Journalismus – um eine echte, gelebte Innovationsbereitschaft, die er sich schleunigst antrainieren muss.

Was ich mir zum Beispiel konkret vorstelle, ist der Aufbau neuer journalistischer Kreativorte und Innovationshubs vor allem in ländlichen Räumen. Die gerade dort zu Neugründungen motivieren sollen, wo es gesellschaftspolitisch derzeit am meisten weh tut: im Lokalen.

Denkbar ist auch, dass wir noch stärker das dialogische Moment aktivieren für die Bürger:innen, wenn es um KI geht. Aufklärung passiert mir an vielen Stellen noch zu wenig, wenn es um die Kontexte, die politischen Abhängigkeiten, aber auch die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der KI-Revolution geht. Die KI noch stärker ins Gemeinwohl zu denken – und danach zu handeln, das wäre eine Aufgabe, die sich der Journalismus stellen könnte.

Gesellschaftliche Verantwortung und journalistische Haltung

Schließlich: Wenn wir als Demokratie resilienter werden wollen, erscheint es auch zu wenig, in „Quick Wins“ für Redaktionen zu denken. Wieder radikal ehrlich ausgedrückt: Wer sich mit KI-Tool-Partys die Nächte um die Ohren haut, muss auch mit dem Hangover am nächsten Tag klarkommen – oder, besser noch, sich der Nebenwirkungen sinnloser KI-Besäufnisse bewusst werden.

Gesellschaftliche Verantwortung ist hier das Schlagwort, aber auch journalistische Haltung und Berufsethik.

Denn eines weiß ich aus meiner Erfahrung in der Weiterbildung – das sind immerhin über 20 Jahre: Die meisten Kolleginnen reflektieren zu wenig darüber, was sie innerlich-emotional beschäftigt – und das ist eine ganze Menge. Auch über das, wovor sie sich fürchten. Wir stellen in unseren VOCER-Akademien immer wieder fest, dass schon der persönlich-fachliche Austausch mit anderen uns robuster, stärker, souveräner macht. Deshalb „Gemeinsam ist besser!“

Der schmale Korridor zwischen Extremen

Ein letzter Gedanke: Wenn die KI-Welle irgendwann (in den nächsten Monaten, Jahren…??) zum Tsunami wird, wie es der britische KI-Unternehmer Mustafa Suleyman in seinem neuen Bestseller „The Coming Wave“ vorhersagt, ist es wahrscheinlich zu spät.

Nicht nur Suleyman, sondern auch langjährige US-Tech-Kritiker wie der Gründer des Center of Humane Technology, Tristan Harris, erklären unermüdlich, dass unser Dilemma darin besteht, dass wir als Gesellschaft nur gemeinsam den schmalen Korridor wählen können – zwischen totalitärer KI-Regulierung und Tech-Anarchie. Beide Extremszenarien bergen gigantische Risiken für die Menschheit.

Ich bin überzeugt, dass guter, resilienter Journalismus ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Hebel ist, um jetzt noch das Schlimmste zu verhindern.

Der Beitrag basiert auf einer Keynote, die der Autor im Rahmen einer TV-Aufzeichnung des „Media Innovation Breakfast 2025“ von MIZ Babelsberg, der Landesanstalt für Medien NRW und des Media Lab Bayern Ende Mai 2025 bei ALEX Berlin gehalten hat.

Bildnachweis: KI-Generiert. NEWS DESERTS: KI-Zyklus zur Expansion von Nachrichtenwüsten und Pressesterben #28 © 2024-2025 Stephan Weichert / VOCER-Institut für Digitale Resilienz

Stephan Weichert

Dr. Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler, Publizist sowie Mitgründer und Direktor des gemeinnützigen VOCER-Instituts für Digitale Resilienz. Aktuell forscht er zu „KI-Resilienz im Journalismus“.

Foto: Martin Kunze

Forum & Debatte

Was macht gemeinnützigen Journalismus aus? Warum braucht es ihn? Wie können seine wirtschaftlichen und juristischen Rahmenbedingungen verbessert werden? Was macht seine gesellschaftliche Akzeptanz aus? In dieser Rubrik bieten wir Gastautor:innen ein offenes Forum für einordnende Debattenbeiträge, Essays, Berichte und Interviews. Die unterschiedlichen Sichtweisen, Positionen und Perspektiven sollen die Debatte über die Sinnhaftigkeit und die Zielsetzungen des gemeinnützigen Journalismus in Deutschland beleben. Es handelt sich um einordnende Gastbeiträge, deren Auswahl durch die NPJ.news-Redaktion erfolgt, die aber nicht zwingend die Meinung der Redaktion wiedergeben.

Published On: 18. Juni 2025