Prof. Dr. Otfried Jarren
Der Kommunikationswissenschaftler war u.a. Direktor des Hans-Bredow-Instituts und Rektor der Universität Zürich.
Herr Professor Jarren, Sie beobachten seit Jahren die Erosion lokaler Öffentlichkeiten. Welche Rolle kann – oder sollte – der gemeinwohlorientierte Journalismus in der Revitalisierung kommunaler Demokratie spielen?
Journalismus und Medien stellten über lange Zeit für die lokale Ebene die Öffentlichkeit allein her. Vielfach gab es keine Konkurrenz. Das ist aber nicht mehr der Fall, es gibt vielfältige Konkurrenz. Und: Auch lokale Gesellschaften sind heute komplexer, sozial differenzierter, es gibt immer mehr Vorgänge, über die entschieden werden muss, auch Wissensfragen werden relevanter. Ist der Lokaljournalismus fit für diese Herausforderungen? Transformative Politik findet in den Kommunen statt. Der Journalismus muss sich auf diese neuen Anforderungen einstellen. Dem Journalismus kommt dann weiterhin eine konstitutive Aufgabe zu, wenn er recherchiert, Transparenz herstellt, dokumentiert, Wissen bereitstellt, anhört, nachfragt und kommentiert – und damit immer wieder Folge- und Anschlusskommunikation ermöglicht. Das setzt auch die Bereitschaft voraus, mit allen Gruppen der Gesellschaft im Austausch zu stehen – nicht allein mit den lokalen Eliten.
Viele Gemeinden setzen heute auf datenbasierte Beteiligung und smarte Tools, dabei wird lokale Öffentlichkeit oft primär als Empfängerin gedacht, nicht als Mitgestalterin. Was müsste passieren, damit gemeinwohlorientierte Medienakteure (Lokalblogs, Bürgermedien, gemeinnützige Redaktionen) als Teil dieses Entwicklungsprozesses strukturell eingebunden werden – und nicht nur als Beobachter agieren?
Die Gemeindeverwaltungen müssen mehr denn je nicht nur mit den etablierten Intermediären, also Parteien, Vereinen, Verbänden oder Lokalmedien im Austausch sein, sondern auch mit jenen Akteuren, die an der Herstellung von Teil- oder Sub-Öffentlichkeiten (digital) mitwirken. Und was die Bürgerinnen und Bürger angeht: Nicht alle wollen sich an allen Themen beteiligen, interessieren sich nicht für alle politischen Vorgänge. Immer weniger Menschen werden im lokalen Raum noch durch die Lokalmedien allein erreicht, auch weil diese den veränderten Ansprüchen nicht genügen: Ein vorrangig news- und ereignisgetriebenes „Massenprodukt“ für alle – das passt nicht mehr, selbst im lokalen Raum. Transformative Politik benötigt andere Journalismus- und Kommunikationskonzepte: Probleme gemeinsam erarbeiten, sich verständlich machen, wiederkehrenden Austausch mit unterschiedlichen Akteuren organisieren, Wissen zu teilen, gemeinsam Lösungen entwickeln. Prozessgestaltung und Moderation sind Aufgaben auch für den Journalismus.
Wenn Sie auf 2030 blicken: Welche neuen Allianzen zwischen Kommunen, Zivilgesellschaft und Non-Profit-Medien braucht es, damit lokale Öffentlichkeiten resilienter und inklusiver werden?
Es bedarf neuer intermediärer Strukturen. Die traditionellen Intermediäre sind vielfach personell ausgezehrt, erreichen nur noch Teilgruppen der Gesellschaft, den vormals von ihnen geprägten sogenannten vorpolitische Raum haben sie verloren, ihre Bindekraft lässt nach, ihre kommunikative Reichweite ist nur noch gering. Mit neuen kommunikativen Ansätzen, die auch von den Kommunen treuhänderisch betrieben werden könnten, sollte die Revitalisierung lokaler Öffentlichkeiten möglich werden. Einbezug und Beteiligung müssen grundsätzlich angestrebt werden, nicht nur in bei besonderen Vorhaben. Denkbar wären Versuche mit gemeinsamen digitalen Plattformen, aber ebenso mit neuen Veranstaltungsformaten. Dabei könnten die unterschiedliche Zwecke und Aufgaben der Akteure deutlich bleiben.
Otfried Jarren

Otfried Jarren, Studium der Publizistik, Soziologie und Volkskunde in Münster (1973-1978), Wissenschaftlicher Assistent und Geschäftsführer des Studiengangs Journalisten-Weiterbildung an der FU Berlin (1979-1989), Professor für Journalistik und Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg (1989-1997), Direktor Hans-Bredow-Institut (1995-2001), Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich (1997-2019), Prorektor und Rektor Universität Zürich (2008-2016), Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (2013-2021), Honorarprofessur am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin, Mitwirkung in diversen akademischen und gesellschaftlichen Beratungsgremien, derzeit Mitglied im Verbandsrat Verband Wohnen und Stadtentwicklung (vhw, Berlin), Träger des Schader Preises. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Medien- und Gesellschaftswandel, Kommunale Öffentlichkeit.
Foto: Frank Brüderli, Zürich
Das Format: 3 Fragen – 3 Antworten
Herausforderungen, Erfahrungen, Chancen: In Kurzinterviews sprechen wir mit Akteur:innen in der Medienlandschaft zur Finanzierung und Förderkulisse von Journalismus sowie zu Fragestellungen rund um gemeinnützigen und gemeinwohlorientierten Journalismus.